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Beitrag vom 04.07.2022
Sieben antisemitische Vorfälle pro Tag in Deutschland 2021: Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) stellt am 28.06.2022 seinen Jahresbericht vor
AVIVA-Redaktion
Die RIAS-Meldestellen haben für das Jahr 2021 bundesweit 2.738 antisemitische Vorfälle erfasst. des hervor. RIAS dokumentierte 2021 mehr antisemitische Vorfälle aus dem verschwörungsideologischen Spektrum sowie aus jenem des antiisraelischen Aktivismus als noch im Vorjahr. Nach wie vor wurden die meisten Vorfälle jedoch dem Rechtsextremismus zugeordnet.
Angriffe und Extreme Gewalt
RIAS hat 2021 mehr Vorfälle mit einem hohen Gewaltpotential erfasst als im Vorjahr, darunter 6 Fälle extremer Gewalt und 63 antisemitische Angriffe. Zu den Fällen extremer Gewalt zählten unter anderem ein Angriff auf einen jüdischen Teilnehmer einer Mahnwache für Israel und gegen Antisemitismus in Hamburg, bei dem der Betroffene schwer verletzt wurde. Im August wurde in Berlin festgestellt, dass ein jüdisches Gemeindehaus beschossen worden war. Zwei Fälle extremer Gewalt mit Todesfolge wurden mit antisemitischen Verschwörungsmythen legitimiert.
Antisemitismus ist Alltag
Antisemitismus ist für Jüdinnen_Juden in Deutschland weiterhin ein alltagsprägendes Phänomen. So wurden dem Bundesverband RIAS 128 Vorfälle im Wohnumfeld der Betroffenen bekannt. Diese führen häufig zu einer dauerhaften Verschlechterung der Lebensqualität. Ein Betroffener schilderte gegenüber dem Bundesverband RIAS, dass er im Oktober vor seiner Wohnungstür Geräusche hörte. Am nächsten Tag stellte er fest, dass die an seiner Tür angebrachte Mesusa – eine Kapsel, die einen Tora-Auszug enthält – gestohlen worden war. 2021 waren insgesamt 964 Einzelpersonen von anti¬semitischen Vorfällen unmittelbar betroffen, 518 davon waren jüdisch oder israelisch.
Gesellschaftliche Gelegenheitsstrukturen
Zwei Anlässe prägten das Vorfallgeschehen im Jahr 2021: Die Coronapandemie sowie die Eskalation des arabisch-israelischen Konflikts im Mai. Fast ein Drittel aller RIAS bekannt gewordenen antisemitischen Vorfälle standen im Zusammenhang mit der Coronapandemie. Hierbei handelte es sich überwiegend um Vorfälle verletzenden Verhaltens wie Schmierereien, Aussagen auf Demonstrationen oder in adressierten Online-Kommentaren. Die Zahl Shoah-relativierender Selbstviktimisierungen, beispielsweise wenn Gegner_innen der Coronamaßnahmen sogenannte Judensterne mit der Aufschrift "ungeimpft" trugen, stieg im Vergleich zum Vorjahr an.
Im Mai 2021 kam es zudem bundesweit zu einem starken Anstieg antisemitischer Vorfälle mit Bezug zur neuerlichen Eskalation des arabisch-israelischen Konflikts. 60 % aller im Monat Mai erfassten Vorfälle (315 von 518) hatten einen Bezug zu diesem Konflikt. Dies bedeutete für Betroffene ein besonders hohes Bedrohungspotenzial: Allein in der Woche ab dem 10. Mai dokumentierten die RIAS-Meldestellen zehn Angriffe, 16 gezielte Sachbeschädigungen und 14 Bedrohungen in diesem Kontext. Antisemitische Bedrohungen fanden häufig online in Sozialen Medien statt und richteten sich gegen erkennbare Jüdinnen_Juden sowie gegen Personen, die ihre Solidarität mit Israel ausdrückten.
In den Bericht flossen die dokumentierten Vorfälle von acht landesweiten Meldestellen ein, Vorfälle aus dem übrigen Bundesgebiet dokumentiert der Bundesverband selbst.
Stimmen zur Veröffentlichung des Berichts "Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2021":
Benjamin Steinitz, geschäftsführender Vorstand des Bundesverbands RIAS e.V.:
"Das Dunkelfeld antisemitischer Vorfälle und Straftaten in Deutschland ist nach wie vor groß. Nur durch die zivilgesellschaftliche Dokumentation, welche auch Unterstützung für Betroffene vermittelt, ist es möglich das Dunkelfeld zu erhellen. Mittlerweile erfolgt diese Arbeit in der Mehrheit der Bundesländer vor Ort.
Unser Bericht zeigt, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland nach wie vor unter dem Vorwand, Kritik an Israel äußern zu wollen, angegriffen und angefeindet werden. Staat und Zivilgesellschaft müssen den Betroffenen von Antisemitismus den Rücken stärken, auch indem sie Antisemitismus klar benennen und kritisieren. Die IHRA Arbeitsdefinition von Antisemitismus ist ein passendes Instrument, um die vielfältigen Formen des Antisemitismus sichtbar zu machen. Politisch motivierte Scheindebatten um ihre Legitimität lenken hingegen davon ab, welche Folgen Antisemitismus für Betroffene hat."
Daniel Poensgen, wissenschaftlicher Referent beim Bundesverband RIAS:
"Angesichts der Coronapandemie und des arabisch-israelischen Konflikts entstanden Gelegenheitsstrukturen, in denen Menschen es als legitim erachteten, ihre antisemitischen Haltungen noch offener zu artikulieren und Jüdinnen_Juden anzugreifen und anzufeinden.
Dabei gibt es durchaus Unterschiede: Vorfälle mit Bezug zur Corona¬pandemie stellten trotz inhaltlicher Verschiebungen das ganze Jahr über eine Art Grundrauschen in Deutschland dar. Im Mai 2021 hingegen kam es zu einen sprunghaften An¬stieg antisemitischer Vorfälle mit Stereotypen des israelbezogenen Antisemitismus, zum Teil waren diese Vorfälle sehr gewaltvoll: Synagogen wurden beschädigt, Jüdinnen_Juden sowie politische Gegner_innen angegriffen. Diese Entwicklung ließ schnell wieder nach, zeigt aber das Potenzial des israelbezogenen Antisemitismus für gewaltvolle antisemitische Eskalationen."
Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland:
"Die stetig steigende Zahl antisemitischer Vorfälle macht seit einigen Jahren eine Enthemmung in Teilen der Bevölkerung sichtbar. Antisemitische Haltungen werden immer häufiger ohne Scheu offen artikuliert, sowohl im Netz als auch auf der Straße. Das wurde etwa bei den Demonstrationen der Corona-Leugner und Impfgegner deutlich. Diese Enthemmung ist ein ge¬fährlicher Nährboden, denn aus Worten werden Taten. Die erschreckend hohe Zahl extremer antisemitischer Gewalttaten im Berichtsjahr 2021 ist daher kein Zufall. Wir brauchen die langfristige politische Stärkung zivilgesellschaftlicher Initiativen sowie flächendeckend Fortbildung bei Polizei und Justiz, um den Antisemitismus in der Gesellschaft zu erkennen, zu ahnden und endlich wieder zurückzudrängen."
Marina Chernivsky, Geschäftsführerin von OFEK e.V., Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung:
"Der Anstieg und die Zuspitzung antisemitischer Vorfälle bundesweit zeigt die Virulenz und gesellschaftliche Normalität des Antisemitismus. Der Bericht unterstreicht die Präsenz des Post-Shoah-Antisemitismus wie auch des israelbezogenen Antisemitismus in allen Teilen der deutschen Gesellschaft. Diese Befunde decken sich weitgehend mit wissenschaftlichen Studien, aber auch mit den Berichten der Betroffenen. Jüdinnen_Juden erleben allzu oft, dass ihre Perspektiven nicht ernst genommen werden. Die einheitliche, bundesweite Erfassung antisemitischer Vorfälle auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze ist daher eine wichtige Grundlage für die Sichtbarmachung des Antisemitismus und seiner Wirkung auf die Betroffenen."
Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus:
"Um Antisemitismus gezielt zu bekämpfen, brauchen wir ein möglichst umfassendes Lagebild, das auch einen elementaren Baustein der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben bildet – ich freue mich sehr, dass der Bundesverband RIAS als eines der wichtigsten Vorhaben meiner Amtszeit so erfolgreich dazu beiträgt und sich die Zahl der Meldestellen, die sich am Jahresbericht 2021 beteiligt haben, im Vergleich zum Vorjahr sogar verdoppelt hat. Der Bericht zeigt, dass Antisemitismus ein gesamtgesellschaftliches und vielgestaltiges Phänomen ist und immer wieder neuen Anlässen angepasst wird, im letzten Jahr vor allem den so genannten Corona-Protesten und dem arabisch-israelischen Konflikt. Judenhass bedroht unsere Demokratie als Ganze, auch deshalb müssen wir dagegen fest zusammenstehen und Wehrhaftigkeit beweisen."
Der Bundesverband RIAS e.V. wurde im Oktober 2018 gegründet. Er verfolgt das Ziel, bundesweit eine einheitliche zivilgesellschaftliche Erfassung und Dokumentation antisemitischer Vorfälle zu gewährleisten und die Interessen von Trägern und Projekten regionaler Meldestellen für antisemitische Vorfälle gegenüber der Öffentlichkeit, Politik und Verwaltung zu vertreten.
Der Bericht kann eingesehen werden unter: report-antisemitism.de.
Einsehbar sind außerdem die Stellungnahmen der Mitglieder des Deutschen Bundestages Simona Koß (SPD), Hermann Gröhe (CDU/CSU), Marlene Schönberger (Bündnis90/Die Grünen), Linda Teuteberg (FDP), Petra Pau (Die Linke) zum Jahresbericht des Bundesverbands RIAS.
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Quelle: Pressemitteilung der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin, 24. Mai 2022